Der absolute Nullpunkt - Die Jobcenter verhängen immer häufiger Sanktionen. Auch eine Kürzung der Hartz-IV-Leistungen um 100 Prozent ist möglich
»Die Minderung erfolgt für die Dauer von drei Monaten und beträgt 100 Prozent des Arbeitslosengeld II«, teilte die Sachbearbeiterin des Jobcenters der Stadt Forst dem erwerbslosen Bert Neumann* mit.
Als wäre diese Mitteilung nicht schon aussagekräftig genug, heißt es im nächsten Absatz des Schreibens: »Ihr Arbeitslosengeld II fällt in diesem Zeitraum komplett weg.
« Als Grund gab das Jobcenter an, Neumann sei einem Computergrundkurs des Bildungswerks »Futura GmbH« unentschuldigt ferngeblieben.
»Ich wurde zum dritten Mal in den gleichen Computerkurs geschickt, der aber immer von unterschiedlichen Trägern veranstaltet wurde«, sagt der Erwerbslose der Jungle World.
Dort seien den Kursteilnehmern für die Jobsuche die Grundlagen der Internetnutzung beigebracht worden. Da Neumann seit Jahren mit Computern arbeitet, langweilte er sich in dem Kurs schon beim ersten Mal. Dass ihn die Sachbearbeiter des Jobcenters gleich dreimal zum Kursbesuch aufforderten, interpretiert er ebenso als Schikane wie den Totalentzug des ALG II.
Für den Kauf dringend benötigter Lebensmittel wurde ihm vom Amt ein Gutschein im Wert von 176 Euro ausgehändigt. Genussmittel dürfen damit nicht erworben werden. Wenn nicht der gesamte Betrag bei einem Einkauf ausgeben wird, verfällt der Restbetrag, weil kein Wechselgeld ausgezahlt werden darf.
Nach dem Ende der Sperre wird der Wert der Gutscheine monatlich mit zehn Prozent von seinen Hartz IV-Leistungen abgezogen, bis der Betrag beglichen ist.
Seit der Streichung des ALG II kann Neumann auch seine Miete nicht zahlen, er fürchtet die Kündigung.
Mittlerweile hat sein Anwalt Klage gegen den Totalentzug von Hartz IV eingereicht.
Seine Erfolgsaussichten sind nicht schlecht.
Eine 100-Prozent-Sanktion sei prinzipiell rechtmäßig, im Detail aber an sehr vielen Punkten angreifbar, sagt Harald Thomé, Referent für Arbeitslosen- und Sozialrecht beim Verein Tacheles, der Jungle World.
Erfolge gebe es regelmäßig.
»Ich würde behaupten, dass in der juristischen Prüfung etwa 75 Prozent der Sanktionsbescheide kassiert werden.
« Eine Sanktion, die einen Wohnungsverlust zur Folge hat, sei verfassungswidrig, interpretiert Thomé anhand zweier Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Höhe von Hartz IV und zum Asylbewerberleistungsgesetz vom Februar 2009 und Juli 2012.
Allerdings ist der Weg durch die juristischen Instanzen zeitaufwendig. Ein Mensch, der befürchten muss, die Wohnung zu verlieren, hat diese Zeit oft nicht.
Der Meinung von Herrn Harald Thomé ist nichts hinzuzufügen, wir schließen uns dieser Meinung an und untermauern dies mit aktueller Rechtsprechung zu Sanktionen im SGB II.
1. Die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums umfasst auch Unterkunft und Heizung und wird in Bezug auf diese durch § 22 SGB II umgesetzt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010, 1 BvL 1/09, Absätze 135, 136, 147, 148).
2. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen , Beschluss vom 21.12.2012 - L 12 AS 2232/12 B
In den Vorschriften des § 31 a Abs. 2 Satz 1, 31 SGB II kann weder ein Verstoß gegen Artikel 3 GG noch eine Altersdiskriminierung gesehen werden
§ 31 a Abs. 2 SGB II ist nicht verfassungswidrig(vgl. hierzu auch Herold Tews in Löns/Herold Tews, SGB II, 3. Auflage 2011, § 31a Rdz 13; Berlit in Münder, SGB II, 4. Auflage 2011, § 31 a Rdz 31).
3. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. September 2012 - L 19 AS 1334/12 B
Im Falle des § 31a Abs 3 S 2 SGB 2 führt eine fehlende Entscheidung über ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung des Sanktionsbescheides insgesamt.
4. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.03.2012 - L 6 AS 1589/10 , anhängig beim BSG unter dem Az.: B 4 AS 67/12 R
Sippenhaftung im Falle einer Sanktion bei den Kosten der Unterkunft ist dem Sozialrecht fremd.