Minimiertes Menschenrecht- Das Prinzip der Bundesregierung: Tausche Existenz gegen Gehorsam- Menschenrechte gelten für alle. Sie stehen nicht im Ermessen einer Regierung oder eines Sachbearbeiters im Jobcenter
Das Prinzip des »Förderns und Forderns«, das derzeit im deutschen Sozialrecht gilt, ist ein Rückfall hinter die Errungenschaft allgemeiner Menschenrechte.
"»nd« berichtete vor kurzem über einen Sanktionierungsfall in Brandenburg, der exemplarisch für die Willkür dieses Bestrafungsinstrumentes stehen kann:
Einem gelernten Koch wurde das Arbeitslosengeld II für drei Monate komplett gestrichen, weil er einen ihm zugewiesenen Computerkurs nicht besuchte. Besser gesagt nicht zum dritten Mal.
Denn schon zweimal zuvor wurde er in Kursen, allerdings von anderen Trägern, in die Grundlagen der Internetnutzung eingewiesen.
Damit er sich mit den nötigsten Lebensmitteln versorgen konnte, erhielt er vom Amt einen Gutschein über 176 Euro - einzulösen bei einem einzigen Einkauf, Restgeldauszahlung unmöglich.
Das Bundesverfassungsgericht hat ein Menschenrecht auf ein Minimum staatlicher Leistung geschaffen: das Existenzminimum.
Es umfasst den unbedingt notwendigen Bedarf des Einzelnen zum physischen Überleben sowie zur Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
Das Existenzminimum muss in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein. Das erfordern die Menschenwürde und der Sozialstaat.
Doch diese Grundsätze stehen zunächst nur auf dem Papier.
Zu ihrer Umsetzung ist die Bundesregierung verpflichtet. Sie verweigert sich mit einem Prinzip, das lautet:
»Fördern und Fordern«. Dieses Prinzip widerspricht dem höchsten Gebot unserer Verfassung:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Die sogenannten Sanktionen sind im internationalen Vergleich die strengsten Kürzungen bei Grundsicherungsleistungen. Über eine Million dieser Sanktionen verhängten die Jobcenter in den vergangenen zwölf Monaten, mehr als je zuvor.
Mehr als 10 000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte waren im Jahresdurchschnitt 2011 sogar »vollsanktioniert«, ihnen wird kein einziger Euro ihrer Hartz-IV-Regelleistung ausgezahlt.
Obwohl sie bedürftig sind. Obwohl sie vielleicht Not leiden. Obwohl sie vielleicht von Obdachlosigkeit bedroht sind oder hungern. Aus einem einzigen Grund: Weil sie nicht gehorchen.
Sanktionen sind Verhaltensnoten, bloß dass statt der Versetzung die Existenz gefährdet ist. Nimmt der Betroffene brav bestimmte »Pflichten« wahr, wird ihm sein Existenzminimum ausgezahlt.
Andernfalls wird ihm kurzerhand sein Regelsatz zusammengestrichen. Wer sich dauerhaft widerständig zeigt, bekommt nicht einmal mehr die Kosten der Unterkunft und die Krankenversicherung bezahlt.
Das ist gerecht, könnte man meinen, denn wer (noch) einen Job hat, arbeitet schließlich auch für sein Geld. Es überlebt nur, wer etwas dafür tut. Das ist die Gerechtigkeit einer Leistungsgesellschaft.
Die verfassungsrechtliche Wahrheit ist:
Für die Höhe der staatlichen Leistung muss der Bedarf der Bürgerinnen und Bürger entscheidend sein. Ihn auszurechnen und zu garantieren, ist Sache des Gesetzgebers. Ihn zu beschneiden nicht.
Das Existenzminimum muss bei gleichem Bedarf stets gleichermaßen gewährt werden.
Der für die eigene Existenz notwendige Bedarf sinkt nicht dadurch, dass jemand eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Er sinkt auch nicht dadurch, dass jemand sich nicht regelkonform verhält.
Das Existenzminimum muss nach dem Bundesverfassungsgericht »in jedem Fall und zu jeder Zeit« sichergestellt sein. Denn die Menschenwürde ist »migrationspolitisch nicht zu relativieren«. Sie ist auch fiskalpolitisch und arbeitsmarktpolitisch nicht zu relativieren.
Die Abhängigkeit eines Menschenrechts von Bedingungen bedeutet in Wirklichkeit seine Einschränkung.
Die Bundesregierung hält trotzig an ihren Prinzipien fest. Die lauten: Tausche Gehorsam gegen Existenz.
Menschenrechte gelten für alle. Sie stehen nicht im Ermessen einer Regierung oder eines Sachbearbeiters im Jobcenter.
Sie können nicht an Bedingungen geknüpft werden. Auch soziale Grundrechte sind unverkäuflich und nicht verhandelbar.
Nicht nur fleißigen Arbeitslosen, die täglich Bewerbungen schreiben und jede unterbezahlte Arbeit annehmen, steht eine menschenwürdige Existenz zu. Auch Menschen, die sich versehentlich oder bewusst der Zusammenarbeit mit den Behörden entziehen, Personen ohne Aufenthaltstitel, Strafgefangene in Haft und alle weiteren, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Persönlichkeit, haben Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.
Ebenso, wie sie beispielsweise ein Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit haben.
Das Prinzip des »Förderns und Forderns«, das derzeit im deutschen Sozialrecht gilt, ist ein Rückfall hinter die Errungenschaft allgemeiner Menschenrechte.
Wieder einmal wird es wohl das Bundesverfassungsgericht sein, das irgendwann einschreitet, wenn ein beherztes Sozialgericht ihm die Frage vorlegt.
Bis dahin werden weiter Sanktionen verhängt, die Menschen in noch mehr Not und Armut stürzen. Bis dahin wird die Menschenwürde tagtäglich verletzt.
Gäbe es einen Verfassungsschutz, der diesen Namen verdient, so müsste er schleunigst handeln."