Es kommt Bewegung in die Rechtsprechung zum " Angemessenheitsbegriff " der Kosten der Unterkunft und Heizung - Was ist unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II?
Erneut hat sich die 17. Kammer des Sozialgerichts Mainz zum Angemessenheitsbegriff des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II geäussert.
Danach ist die Angemessenheit der KdU im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II wie folgt zu definieren:
1. Die Konkretisierung des Angemessenheitsbegriffs des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum "schlüssigen Konzept" ist nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) näher bestimmt worden ist.
2. Für eine Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums durch am einfachen Wohnstandard orientierte Mietobergrenzen fehlt es an einer den prozeduralen Anforderungen des BVerfG genügenden und hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Grundlage.
3. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.
Der in § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II verwendete "unbestimmte Rechtsbegriff" der "Angemessenheit", welcher der alleinige normtextliche Anknüpfungspunkt für die Beschränkung der Übernahme der Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II ist, genügt den im Urteil vom 09.02.2010 gestellten Anforderungen des BVerfG nicht (so mittlerweile auch SG Dresden Urt. v. 25.01.2013 - S 20 AS 4915/11 ; SG Leipzig Urt. v. 15.02.2013 - S 20 AS 2707/12).
Die Rechtsprechung des BSG zum Angemessenheitsbegriff führt mithin zu verfassungswidrigen Ergebnissen. Indem das BSG den Angemessenheitsbegriff ausgehend von einem einfachen, grundlegenden, im unteren Marktsegment liegenden Wohnstandard im Sinne einer allgemein anzuwendenden Mietobergrenze konkretisiert, bestimmt es den Umfang der zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlichen Leistungen im Wesentlichen selbst bzw. gibt der Verwaltung die Rahmenbedingungen hierfür vor.
Das BSG verwendet den Angemessenheitsbegriff somit als normtextlichen Ausgangspunkt und Rechtfertigungsgrund für die Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums. Auf Grund seiner Entstehungsgeschichte und seiner Unbestimmtheit ist der Angemessenheitsbegriff des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II hierzu jedoch nicht geeignet.
Der Angemessenheitsbegriff ist demzufolge nicht im Sinne einer stets zu prüfenden, an lediglich grundlegenden Bedürfnissen orientierten Angemessenheitsgrenze mit regional und anhand der Zahl der Haushaltsmitglieder festgelegter Höhe zu konkretisieren, sondern als Angemessenheitsvorbehalt, welcher dem Leistungsträger (wiederum unter voller gerichtlicher Kontrolle) ermöglicht, den Leistungsanspruch in Fällen offenkundiger Missverhältnisse zu reduzieren.
Dies ist anhand der Besonderheiten des Einzelfalls (§ 22 Abs. 1 S. 3 SGB II) durchzuführen. Als unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II einzuordnen sind die Aufwendungen für eine Unterkunft demnach erst dann, wenn die Kosten deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.
Die Orientierung an den üblichen Unterkunftskosten bietet einen ersten Anhaltspunkt dafür, in welchen Fällen die Übernahme von Aufwendungen der Unterkunft als Existenzsicherungsleistung nicht mehr zu rechtfertigen sein könnte. Die Beziehung auf einen geografischen Vergleichsraum trägt der Tatsache Rechnung, dass es im Bundesgebiet erhebliche Unterschiede im Preisniveau gibt.
Sozialgericht Mainz, Urteil vom 15.04.2013 - S 17 AS 518/12 - Die Berufung wird zugelassen.
Anmerkung vom Verfasser: Lesen Sie dazu meinen Beitrag vom Freitag, den 12.04.2013
Sozialgericht Dresden, Urteil vom 25.01.2013 - S 20 AS 4915/11 , Berufung anhängig beim Sächsischen LSG unter dem Az. L 3 AS 689/13
Weiteres Gericht rebelliert:Die Rechtsprechung des BSG zum "schlüssigen Konzept" genügt nicht den Vorgaben des BVerfG vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 - Bundesweit ist es erst einem Jobcenter gelungen, ein schlüssiges Konzept zu erstellen, das vor dem BSG Bestand hatte. Der Beitrag wurde verfasst von Detlef Brock.