Der Sozialstaat ist nicht erst mit der Agenda 2010 nachhaltig in Verruf geraten. In Blütezeiten des deutschen Wirtschaftswunders und der Vollbeschäftigung noch als beispielhaftes lückenloses Netz der sozialen Sicherheit gepriesen, wird er seit einigen Jahren zunehmend als soziale Hängematte diffamiert, in der sich insbesondere die Arbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein Faulenzerleben leisten. Die Politiker der regierenden Parteien betrachten nunmehr das frühere Aushängeschild guter wohlfahrtsstaatlicher Politik als einziges Standorthindernis und haben dementsprechend den Sozialstaat der bisherigen Art für unfinanzierbar erklärt. In Ausführung dieses selbstgesetzten Auftrags hat die Politik ein Loch nach dem anderen in das soziale Netz geschnitten. Mit zahlreichen Leistungskürzungen sowie mit diversen Maßnahmen zur Begrenzung der „Lohnnebenkosten“ hat der Staat zunehmend seinen Haushalt und die Unternehmerschaft von den als unnötig deklarierten Unkosten der sozialstaatlichen Betreuung der Gesellschaft befreit und stattdessen die diesbezüglichen Lasten den Betroffenen und ihren Familien selber aufgebürdet. Das Meisterstück des Umbaues vom „Wohlfahrtsstaat“ zum aktivierenden Sozialstaat bildet die unter dem Namen von Hartz-IV bekannt gewordene Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, in deren Zuge ca. 3 Millionen Langzeitarbeitslose auf Sozialhilfeniveau gesetzt wurden und zugleich ein entscheidender Schritt zur Schaffung des Billiglohnsektors getan wurde. Und was machen die Betroffenen und deren Interessensvertreter in Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Arbeitsloseninitiativen angesichts dieser Entwicklung? Sie haben nichts Besseres zu tun, als den angeblich pflichtvergessenen Staat umso nachdrücklicher an seine eigentliche Aufgabe als sozialer Schutz- und Sicherungsagentur der Arbeitnehmerinteressen zu erinnern. Gegen die (weitere) Reform des Sozialstaates mobilisieren sie den höchsten Wert der Verfassung: die Menschenwürde und das klassische Ideal des Sozialstaates als Agentur sozialer Gerechtigkeit, das von der Sozialdemokratie in der Schröder-Ära als unmoderner Traditionsbestand ausgemustert worden war.