Vernichtendes Urteil über die Hartz IV Probleme - Gesetzgebung und massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umsetzung des BVerfG-Urteils zur Regelsatzhöhe vom Deutschen Richtertag.
Praktische Probleme mit Hartz IV
Der Deutsche Richtertag 2011 in Weimar bot der Sozialgerichtsbarkeit ein Forum, die Gründe zu diskutieren, die für den erheblichen und immer noch zunehmenden Arbeitsanfall in Sachen „Hartz IV“ ursächlich sind und auf neue Herausforderungen hinzuweisen, die durch das Urteil des BVerfG vom 9.2.2010 und durch das lange umkämpfte Reformgesetz vom 24.3.2011 auf die Sozialgerichte zukommen. In einem Workshop, der von RiBSG Dr. Elke Roos moderiert wurde, führte Prof. Dr. Peter Udsching in die Thematik ein:
I. In den Medien werden vor allem vermeintliche Gesetzgebungsfehler für die Klageflut verantwortlich gemacht; die Gerichte müssten die Folgen schlechter Gesetzgebungsarbeit ausbaden. Bei näherer Analyse entpuppt sich die These vom „handwerklich schlechten Gesetz“ ganz überwiegend allerdings als Stammtischparole, die von den Medien in Ermangelung näherer Sachkenntnis gern aufgegriffen wird. Tatsächlich ist das SGB II vor allem in den Bereichen in der Verwaltungspraxis fehleranfällig, in denen es – wie etwa bei den Kosten der Unterkunft – durch starke Individualisierung des Bedarfs versucht, ein hohes Maß an Gerechtigkeit zu erzielen oder – wie bei der Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen des Hilfebedürftigen – ein tagesaktuelles Kombilohnmodell zu praktizieren, das allein wegen des hohen Änderungsbedarfs fehleranfällig ist. Die Praxis wird sich in den kommenden Monaten massiv mit der Frage beschäftigen müssen, ob der Gesetzgeber mit dem „Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB II und XII“ den Anforderungen gerecht geworden ist, die das BVerfG mit seinem Urteil vom 9.2.2010 aufgestellt hat. Zweifel an den von der Bundesregierung zugrunde gelegten Zahlen sind bereits publiziert worden. Es geht insbesondere um Fehler bei der statistischen Erfassung der maßgebenden Daten und bei der Umsetzung statistischer Methoden. Grundlage der Vorwürfe ist die Forderung des BVerfG, die vom Gesetzgeber gewählte Methode zur Ermittlung des Bedarfs einkommensschwacher Teile der Bevölkerung müsse nicht nur geeignet sein, den Bedarf zu ermitteln, sondern der Gesetzgeber müsse die gewählte Ermittlungsmethode auch konsequent anwenden und umsetzen und dies auch transparent machen (Stichwort: Keine Schätzungen ins Blaue). Hier wird sich insbesondere die Frage stellen, inwieweit der Gesetzgeber an statistische Methodenlehren gebunden sein kann. Mit der Forderung nach Einhaltung statistischer Methodenvorgaben dürfte wohl eine Zielgenauigkeit derartiger Methoden unterstellt werden, die es tatsächlich nicht gibt.
II. Ein wesentlicher Grund für den übermäßigen Arbeitsanfall der Sozialgerichte liegt im gänzlich unzulänglichen Verwaltungsvollzug. Hierfür gibt es mit der fehlenden Regelungskontinuität eine vorgelagerte Ursache, die auch eine bestens organisierte und personell gut ausgestatte Verwaltungsorganisationen überfordern würde. Seit seiner Einführung ist das SGB II mehr als 50 Mal geändert worden. In zwei zentralen Fragen (Organisation und Leistungen) war es verfassungswidrig und musste, wiederum mit umfangreichen Änderungen verbunden, revidiert werden. Die erforderlichen Änderungen mussten mit großer Hektik umgesetzt werden. Die häufig erschreckende Qualität der Fallbearbeitung ist aber offensichtlich vor allem auf immer noch unzulänglich qualifiziertes Personal zurückzuführen. Ursächlich für die nach wie vor bestehenden großen Personalprobleme sind Umstände, die auch mit der bisherigen Konstruktion der zuständigen Behörden zusammenhängt und der sich hieraus für das Personal ergebenden Perspektivlosigkeit. Die Folge der daraus resultierenden Fehlerhaftigkeit der Bescheide ist eine hohe Erfolgsquote der Betroffenen im gerichtlichen Rechtsschutz. Sie liegt weit höher als in jedem anderen Bereich der öffentlichen Verwaltung – und auch ganz erheblich höher als in anderen Bereichen des Systems der sozialen Sicherung. Indiz für die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungshandelns im SGB II-Bereich ist die Tatsache, dass die BA Verwaltungsanweisungen herausgibt mit dem Titel „Rechtmäßigkeit der Leistungsgewährung sicherstellen“. Die Sozialgerichte leiden vor allem unter einer höchst unzureichenden Aktenführung, die man teilweise nur als fragmentarisch bezeichnen kann. Auch aufgrund der Personalschwierigkeiten fällt die Amtsermittlung auf Verwaltungsebene teilweise komplett aus und wird in den meisten Fällen in das gerichtliche Verfahren verlagert. Folge ist, dass richterliche Arbeitszeit zu einem Großteil durch die Ermittlung des Sachverhalts gebunden wird, während für die häufig diffizilen Rechtsfragen keine Zeit mehr bleibt. Darüber hinaus fehlt es an einer funktionierenden überregionalen Koordination. Diese Aufgabe, die im Bereich der Sozialversicherung von den Verbänden der Leistungsträger oder von einem zentral zuständigen Träger bundesweit wahrgenommen wird, nimmt die BA bei der Umsetzung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur sehr eingeschränkt wahr. Im SGB II-Bereich ist nach wie vor eine unklare Weisungslage zu erkennen. Zur unzulänglichen Koordination zählt auch die Tatsache, dass auch nach über fünfjährigem Vollzug des SGB II noch immer ein Computerprogramm zur Sachbearbeitung (A2LL) verwendet wird, das gravierende Mängel aufweist und als Ergebnis unverständliche Bescheide produziert.
III. Durch das über lange Zeit praktizierte fehlerhafte Verwaltungshandeln hat sich bei den Betroffenen ein signifikanter Vertrauensverlust eingestellt. Es gibt kein Vertrauen mehr darin, dass die Behörde grundsätzlich schon richtig gerechnet hat. Dieses Grundvertrauen aber ist elementar für unsere staatliche Verwaltung. Inzwischen legt man lieber einmal mehr Widerspruch ein und lässt den Bescheid noch einmal (kostenfrei) durch ein unabhängiges Gericht überprüfen, dessen Richter sich zunehmend in der Rolle von („weisungsbefähigten“) Verwaltungsinspektoren wiederfinden, die die Widerspruchsbehörde ersetzen. Die Fehlerhaftigkeit der Bescheide produziertweitere Kosten durch die Inanspruchnahme von Rechtsanwälten im sozialgerichtlichen Verfahren – angesichts der hohen Erfolgsquote kann den Rechtsschutzbegehren nur selten Erfolglosigkeit prognostiziert werden. Mit einer Entlastung der Sozialgerichte kann erst gerechnet werden, wenn in der einschlägigen Gesetzgebung ein wenig Ruhe und Kontinuität und in der Arbeit der Verwaltung ein Qualitätssprung eingetreten ist.