Anmerkung zu: BVerfG 1. Senat, Urteil vom 18.07.2012 - , 1 BvL 10/10, BVerfG 1. Senat, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 2/11 Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes und Rechtsfolgen bis zur Neureglung durch den Gesetzgeber
Leitsätze(von juris)
1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 AsylbLG ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist.
2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. - BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht.
Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.
3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.
Anmerkung zu: BVerfG 1. Senat, Urteil vom 18.07.2012 - , 1 BvL 10/10, BVerfG 1. Senat, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 2/11 Autor: Daniela Evrim Öndül, RA'in und FA'in für Arbeitsrecht Erscheinungsdatum: 23.08.2012
Quelle: juris Normen: § 7 SGB 2, § 23 SGB 12, § 2 AsylbLG, § 6 AsylbLG, Art 1 GG, Art 20 GG, § 5 RBEG, § 6 RBEG, § 7 RBEG, § 8 RBEG, § 3 AsylbLG, § 1a AsylbLG, § 44 SGB 10, § 48 SGB 10, Art 3 GG, § 1 AsylbLG Fundstelle: jurisPR-SozR 17/2012 Anm. 1 Herausgeber: Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vors. RiBSG Prof. Dr. Rainer Schlegel, Ministerialdirektor, Bundesministerium für Arbeit und Soziales Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes und Rechtsfolgen bis zur Neureglung durch den Gesetzgeber
Leitsätze
1. Die Höhe der Geldleistungen nach § 3 AsylbLG ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 nicht verändert worden ist. 2. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. - BVerfGE 125, 175). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. 3. Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er bei der konkreten Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.
A. Problemstellung Ausländer, die einen in § 1 AsylbLG genannten Aufenthaltsstatus innehaben, erhalten zur Sicherung ihrer Existenz Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Von der Grundsicherung für Arbeitssuchende oder der Sozialhilfe sind sie ausgeschlossen, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II, § 23 Abs. 2 SGB XII. Die in § 3 AsylbLG geregelten Grundleistungen sollen den notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Gesundheits- und Körperpflege sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts erfassen und vorrangig als Sachleistungen erbracht werden. § 2 Abs. 1 AsylbLG sieht vor, dass diese Leistungen vier Jahre lang bezogen werden müssen (Vorbezugsdauer), bevor das SGB XII analog angewandt wird. Der Wertersatz für die Grundleistungen beläuft sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG auf 184,07 € (Haushaltsvorstand), 112,48 € (Haushaltsangehörige bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres) oder 158,50 € (andere Haushaltsangehörige) zuzüglich der notwendigen Kosten für Unterkunft, Heizung und Hausrat. Daneben erhalten die Leistungsberechtigten nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG einen Barbetrag zur Deckung der persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens in Höhe von 20,45 € (bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres) bzw. 40,90 €. Durch die im Vergleich zum allgemeinen Fürsorgerecht erheblich abgesenkten Leistungen sollten Zuwanderungsanreize verringert werden. Zudem sah der Gesetzgeber die niedrigeren Leistungen durch den nur vorübergehenden Aufenthalt der ausgewählten Personengruppen in der Bundesrepublik gerechtfertigt (BT-Drs. 12/3686, S. 4) – so die Rechtslage bis zur hier besprochenen Entscheidung des BVerfG vom 18.07.2012. Auf zwei Vorlagen des LSG Essen hin hatte das BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des § 3 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 AsylbLG zu entscheiden.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Der Kläger des ersten Verfahrens, ein irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit lebte bereits seit sechs Jahren in der Bundesrepublik. Sein Asylverfahren war zwar erfolglos geblieben, sein Aufenthalt wurde jedoch geduldet. Er erhielt bereits Analogleistungen nach § 2 AsylbLG, als ihm nach Anhebung der Vorbezugsdauer durch das Richtlinienumsetzungsgesetz (BGBl I 2007, 1970) erneut Grundleistungen bewilligt wurden. Die siebenjährige Klägerin des zweiten Verfahrens ist in Deutschland geboren. Ihre Mutter war aus Liberia eingereist. Im verfahrensgegenständlichen Zeitraum war die Klägerin im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Mittlerweile ist sie deutsche Staatsangehörige. Der Klägerin wurden ab Januar 2007 Grundleistungen nach § 3 AsylbLG bewilligt, da ihre Mutter den Lebensunterhalt bis dahin größtenteils aus Erwerbstätigkeit bestritten hatte und damit die Vorbezugszeit nicht erfüllte. In beiden Fällen blieben Widerspruch und Klage ohne Erfolg. In den Berufungsverfahren setzte das LSG Essen die Verfahren aus und legte dem BVerfG die Frage zur Entscheidung vor, ob § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 AsylbLG sowie § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Wie nach seiner Entscheidung zu den Regelleistungen des SGB II (BVerfG, Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09) vielfach erwartet worden war, hat das BVerfG entschieden, dass die zur Überprüfung gestellten Vorschriften des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht den Vorgaben aus dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums genügen. Das BVerfG stellte zunächst klar, dass das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG ein Menschenrecht ist, welches deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht und durch migrationspolitische Gründe nicht relativiert werden kann. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums werde durch die zur Überprüfung gestellten Vorschriften verletzt, weil die darin normierten Leistungen jedenfalls evident unzureichend seien (1.). Es fehle aber auch an einem folgerichtigen, transparenten und sachgerechten Verfahren zur Ermittlung des individuellen Leistungsumfangs (2.). 1. Obwohl das Preisniveau in Deutschland seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes um mehr als 30% gestiegen sei, habe der Gesetzgeber die Höhe der Leistungen nie angepasst. So hätten die Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz im Januar 2012 rund 35% unter denen des allgemeinen Fürsorgerechts gelegen. Die evident unzureichende Höhe der Leistungen lasse sich auch nicht durch die Ermessensvorschrift des § 6 AsylbLG kompensieren, der eine ausnahmsweise Leistungsgewährung in atypischen Fällen vorsieht. 2. Darüber hinaus seien die Leistungen auch nicht realitätsgerecht und begründbar bemessen. Zwar sei es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, bei der Festlegung des Existenzminimums zwischen verschiedenen Personengruppen zu differenzieren. Eine Ermittlung der tatsächlichen Bedarfe der nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Berechtigten habe aber nie stattgefunden. Vielmehr gingen die Beträge des § 3 AsylbLG auf schlichte Schätzungen zurück. Auch sei weder nachgewiesen, dass eine kurze Aufenthaltsdauer zu einem geringeren Bedarf führt, noch dass die nach § 1 AsylbLG Leistungsberechtigten sich typischerweise nur kurze Zeit in Deutschland aufhielten. Das BVerfG verwies darauf, dass das Asylbewerberleistungsgesetz inzwischen nicht nur Asylbewerber erfasst, sondern Menschen mit sehr unterschiedlichem Aufenthaltsstatus, deren überwiegender Teil sich länger als sechs Jahre in Deutschland aufhält. Zudem sei auch denkbar, dass gerade ein nur vorübergehender Aufenthalt in Deutschland zu Mehrbedarfen führe, die bei der Bemessung des Existenzminimums ebenfalls zu berücksichtigen seien. Das BVerfG machte in diesem Zusammenhang aber auch deutlich, dass selbst ein nur kurzfristiger Aufenthalt nicht die Beschränkung des Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die bloße Sicherung der physischen Existenz rechtfertige. Im Hinblick auf die evident unzureichenden Beträge hielt das BVerfG die fortdauernde Anwendung der Normen für nicht hinnehmbar und formulierte eine Übergangsregelung auf Basis des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes (BGBl I 2011, 453). Der Gesetzgeber bleibt verpflichtet, eine Neuregelung zu treffen. Eine Frist ist ihm nicht gesetzt.
C. Kontext der Entscheidung Das BVerfG (Urt. v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) hatte entschieden, dass die Regelleistungen des SGB II für Erwachsene wie für Kinder nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen (vgl. zu den hier entwickelten Anforderungen Luik, jurisPR-SozR 4/2010 Anm. 1, und Nöcker, jurisPR-SteuerR 16/2010 Anm. 6). Kritisiert hatte das BVerfG das Verfahren, mit dem die Regelsätze ermittelt worden waren. Anders als im nunmehr ergangenen Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz hatte das BVerfG aber die Höhe der Regelleistungen nicht für evident unzureichend gehalten. Es räumte dem Gesetzgeber daher eine Frist zur Neuregelung ein. Das in Reaktion hierauf beschlossene Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz trat am 01.01.2011 in Kraft. An der Verfassungsmäßigkeit der Ermittlung der Regelbedarfe bestehen aber erneut Zweifel (SG Berlin, Beschl. v. 25.04.2012 - S 55 AS 9238/12 und S 55 AS 29349/11). Daher hat das BVerfG seine Übergangsregelung für die zukünftige Berechnung von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz selbst mit einem Vorbehalt versehen. Mit dem Rückgriff auf das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz sei weder gesichert, ob die Bedarfe derjenigen, auf die das Asylbewerberleistungsgesetz Anwendung findet, realitätsgerecht abgebildet werden. Noch sei absehbar, ob die auf dieser Grundlage ermittelten Leistungssätze in anderen Fürsorgesystemen einer verfassungsrechtlichen Kontrolle Stand hielten.
D. Auswirkungen für die Praxis Die vom BVerfG getroffene Übergangsregelung unterscheidet zwischen den Leistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG und dem Barbetrag nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG. Grundsätzlich ergeben sich durch die Orientierung an den §§ 5, 6, 7, 8 RBEG in beiden Fällen höhere Leistungen. Es werden die Regelbedarfsstufen 1 bis 6 nach § 8 RBEG übernommen, nicht aber die Leistungssätze des allgemeinen Fürsorgerechts. Vielmehr ist eine gesonderte Berechnung vorzunehmen. Für Leistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG erfolgt die Berechnung auf Basis der ermittelten Bedarfe für die Abteilungen 1, 3, 4 und 6. Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG beziehen sich auf die Abteilungen 7 bis 12. Bedarfe der Abteilung 5 (Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände) bleiben unberücksichtigt. Nach wie vor können aber die von § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG erfassten Bedarfe durch Sachleistungen befriedigt werden. Eine ergänzende Geldleistung ist dann nicht vorgesehen. In jedem Fall macht sich die Erhöhung aber beim Barbetrag nach § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG bemerkbar. Problematisch ist insoweit die nach § 1a AsylbLG vorgesehene Anspruchseinschränkung auf das unabweisbar Gebotene, mit der ausländerrechtlich nicht erwünschtes Verhalten sanktioniert wird (Einreise zum Zwecke des Leistungsbezugs, Verhinderung aufenthaltsbeendender Maßnahmen). Die ohnehin zweifelhafte Praxis der Behörden, den gesamten Barbetrag zu streichen oder ihn jedenfalls zu halbieren, erhält damit eine höhere Brisanz. Die Übergangsregelung des BVerfG gilt rückwirkend ab dem 01.01.2011. Von der Rückwirkung profitieren allerdings nur Adressaten noch nicht bestandskräftiger Bescheide. Die Anwendung des § 44 SGB X (Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte) und des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X (Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der rechtlichen Verhältnisse) hat das BVerfG bis Ende Juli 2012 ausgeschlossen.
E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung Die Frage, ob die Ausgliederung bestimmter Personengruppen aus dem Fürsorgesystem des SGB II/SGB XII gegen Art. 3 GG verstößt, war nicht Gegenstand der Entscheidung. Zwar hat das BVerfG immer wieder betont, dass es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sei, Art und Umfang von Sozialleistungen an Ausländer grundsätzlich von der voraussichtlichen Dauer ihres Aufenthalts in Deutschland abhängig zu machen. Bislang haben derartig differenzierende Vorschriften, der verfassungsrechtlichen Überprüfung jedoch nicht standgehalten (BVerfG, Beschl. v. 06.07.2004 - 1 BvL 4/97, Kindergeld; BVerfG, Beschl. v. 06.07.2004 - 1 BvR 2515/95, Erziehungsgeld). Auch im vorliegenden Urteil setzt sich das BVerfG mit der Frage auseinander, ob mit § 1 AsylbLG tatsächlich nur diejenigen Ausländer erfasst werden, die sich vorübergehend in Deutschland aufhalten und kommt zu dem Schluss, dass die gesetzliche Differenzierung der tatsächlichen Situation nicht gerecht wird.