Bemessung des Arbeitslosengeldanspruchs - Gleichwohlgewährung - arbeitsgerichtliche Verschiebung des Beendigungszeitpunktes des Arbeitsverhältnisses - sozialrechtlicher Herstellungsanspruch - Hinweispflicht auf die Rechtsfolgen der Gleichwohlgewährung und bestehende Gestaltungsmöglichkeiten
23 Die Beklagte war im vorliegenden Fall verpflichtet, den Kläger über die Rechtsfolgen der Gleichwohlgewährung und die insoweit bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten aufzuklären. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine Kenntnis der juristischen Konstruktion der Gleichwohlgewährung, insbesondere der Unterscheidung zwischen dem leistungsrechtlichen und dem beitrags- und arbeitsrechtlichen Begriff der Arbeitslosigkeit, vom Arbeitslosen nicht ohne Weiteres erwartet werden kann.
Bei der Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld besteht daher schon bereits deswegen ein hoher Beratungsbedarf (vgl. hierzu auch Mönch-Kalina, in: jurisPK SGB I, 2. Aufl. 2011, § 14 Rdnr. 37 m.w.N.). Die Beratungspflichten erstrecken sich auch und gerade auf die gesetzlichen Möglichkeiten, die Dauer des Arbeitslosengeldanspruchs durch entsprechende Dispositionen zu beeinflussen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 05.09.2006 – B 7a AL 70/05 R, Rdnr. 18; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 29.01.2007 – L 1 AL 62/06, Rdnr. 18 ).
Entgegen der Ausführungen der Beklagten drängte sich eine Beratung des Klägers hier auf. Denn sie konnte aus den Antragsunterlagen, namentlich den Arbeitsbescheinigungen vom 07.04.2011 und vom 21.04.2011, ohne Weiteres ersehen, dass eine Ausübung des Bestimmungsrechts dahingehend, dass das Stammrecht zu einem späteren Zeitpunkt entstehen soll, für ihn vorteilhaft sein könnte (vgl. hierzu auch Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 24.01.2012 – L 13 AL 4098/10 ). Der Unterschied zwischen dem in den ersten fünfeinhalb Monaten erzielten Arbeitsentgelt von monatlich 600,00 Euro und dem Verdienst im restlichen Bemessungszeitraum von durchschnittlich rund 2.765,00 Euro ist evident.
Es musste der Beklagten daher klar sein, dass der Kläger im Fall einer in arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht unüblichen Verlängerung der Kündigungsfrist bei einem späteren Eintritt der Arbeitslosigkeit auch im leistungsrechtlichen Sinne Anspruch auf deutlich höheres Arbeitslosgengeld gehabt hätte.
Gegen eine entsprechende Beratungspflicht spricht auch nicht etwa, dass das Ergebnis des Kündigungsschutzprozesses zum Bewilligungszeitpunkt noch nicht abzusehen war. Zum Einen findet vor den Arbeitsgerichten aufgrund des dort geltenden Beschleunigungsgrundsatzes (§ 9 Abs. 1 Arbeitsgerichtsgesetz ) im Regelfall frühzeitig ein Gütetermin statt (§ 54 ArbGG), der nicht selten bereits zu einer vergleichsweisen Beendigung des Arbeitsrechtsstreits führt und dem Kläger jedenfalls eine Einschätzung hinsichtlich des weiteren Verfahrensgangs erlaubt.
Zum anderen entbindet auch ein ggf. längerer ohne Arbeitslosengeld zu überbrückender Zeitraum die Beklagte nicht von ihrer Beratungspflicht, sofern die Ausübung des Gestaltungsrechts im konkreten Fall nicht völlig fernliegend ist. In diesem Fall bestehen im Gegenteil vielmehr gesteigerte Anforderungen an die Beratung, da dem Versicherten die möglichen Nachteile einer Verschiebung des Arbeitslosengeldbezugs z. B. hinsichtlich Krankenversicherungsschutz und Rentenversicherungsbeiträgen, sorgfältig erläutert werden müssen (vgl. Bundessozialgericht , Urteil vom 05.09.2006 – B 7a AL 70/05 R, Rdnr. 19; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen , Urteil vom 29.01.2007 – L 1 AL 62/06, Rdnr. 20 ).
Schließlich waren der Beklagten die finanziellen Verhältnisse des Klägers aus dem Antragsverfahren und den dort vorgelegten Antragsunterlagen nicht bekannt, so dass sie nicht davon ausgehen konnte, er sei auf die Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld angewiesen, was eine Ausübung des Bestimmungsrechts im Einzelfall ausschließen könnte.